
Das erste Mal hat Svenja Bickert-Appleby nach dem Studium an eine Selbstständigkeit gedacht. Es gab einfach nicht den richtigen Arbeitgeber bzw. die richtige Position für sie, also hatte sie den Eindruck, sie müsse sich selbst auf den Weg machen. Am „Business“ hat sie dabei schon immer fasziniert, dass der Kunde entscheidet, ob ein Konzept „funktioniert“. Mit ihrem Diplom in der Tasche hatte sie dann die Zeit, den Raum und die Möglichkeit ein Business zu gestalten und zu testen und ihr Konzept von einem eigenen Business entstand.
Woher kommt der Drang zur Selbstständigkeit?
Das ist schwer nachzuvollziehen, lass mich mal überlegen. Ich denke, ich bin mit einem recht eigenen Kopf auf die Welt gekommen und eines meiner Lieblingswörter war „selber“ „Svenja selber“, also das hat schon früh begonnen. Die Selbstständigkeit habe ich hauptsächlich über meinen Opa kennengelernt, der ein kleines Versicherungsunternehmen noch bis spät ins Alter führte. Dann hat mein älterer Bruder gegründet.
Hattest du zu diesem Zeitpunkt schon gleich den Mut ins kalte Wasser zu springen oder hast du die Idee erstmals eine Weile auf dich wirken lassen und beobachtet?
Ich denke, die Idee und die Idee von Selbstständigkeit hat sich im Laufe des Diploms entwickelt und wurde dann danach harte Wirklichkeit. Mir war aber auch immer klar, dass die Idee und das Business erst neben einem Job, der Geld einbringt, wachsen muss und erst wenn es profitabel ist, ich mich voll drauf fokussieren würde. Insofern war das Risiko geringer und ich konnte „das Wasser erst einmal testen“. Mut brauchte es allerdings, als junge Designerin an den verschiedenen Businessplan-Wettbewerben teilzunehmen und mit so wenig „Business-Erfahrung“ und einem fast reinen Männerpublikum.

Du führst mittlerweile zwei Unternehmen, New Order Design und Solostücke, nebenbei auch noch einige andere Projekte. Viele Gründer haben schon alle Hände voll zu tun ein einziges Business zum Laufen zu bringen. Woher kam das Bedürfnis noch auf ein weiteres Pferd zu setzen?
New Order Design – als Innovationsberatung ist mein Hauptbusiness und Solostücke ist das Start-up, welches sich gerade noch beweisen muss. Die Gründungen haben sich bei mir ergeben, meist aus entweder Neugier – wie bei Solostücke: Alle reden über Circular Economy und es gibt viel hierzu zu lesen – aber wie ist es eigentlich, wenn man versucht es in die Realität umzusetzen? Oder aus dem Bedürfnis mir eine Arbeitsstelle zu schaffen, die zu mir und meinen Fähigkeiten, meinem Leben und meinen Werten, passt. Als ich 2014 von London nach Wiesbaden gezogen bin, gab es hier kein Unternehmen, dass sich mit den Themen und Methoden beschäftigt hat, die ich aus London mitgebracht hatte, wie Service Design (im öffentlichen Sektor), Design Thinking und Circular Economy, deswegen war es eine Notwendigkeit meine eigene Beratung aufzubauen. Zunächst gründete ich Future Flux als Innovationsberatung mit zwei Partnern. Wir haben Future Flux drei Jahre erfolgreich betrieben und in Wiesbaden etabliert, aber nach den drei Jahren wollten wir als Gründer jeweils unsere sehr eigenen Visionen verfolgen und umsetzen, deswegen haben wir alle wieder neue Firmen gegründet – und ich New Order Design. Wichtig war mir hier meine Verortung im Design direkt im Namen zu tragen und auch meine Vision von Neugestaltung, von New Order, die sich durch alle meine Projekte zieht. Natürlich ist es auch wieder die Neugier, die mich dazu antreibt, mit Solostücke das Entwickeln und Etablieren eines physischen Produkts im Kontrast zur Beratung auszutesten und zu explorieren.
Welches Unternehmen bedarf mehr Aufmerksamkeit und intensiverer Projektbetreuung?
Solostücke ganz klar ist das schwierigere Business mit einem Produkt, mit Produktion, B2B und B2C Verkauf, Marketing und Finanzierung. Obwohl es viel kleiner ist und noch nebenher neben New Order läuft. Mit New Order scheint mir der Weg klarer, bei Solostücke muss man noch viel ausprobieren und lernen.

Wie organisierst du dich mit zwei Unternehmen, Kindern und Privatleben?
Ja, es bedarf wirklich guter Organisation, um dies alles unter einen Hut zu bekommen, aber vor allem Bedarf es eines wirklich tollen Partners, der meine Selbstständigkeit und mein Unternehmertum unterstützt und sich selbst auch erheblich in die Kinderbetreuung und Familienorganisation einbringt. Mein Mann hat mich von Anfang an mit der Idee der Selbstständigkeit und der Gründung unterstützt und hat kürzlich auch ein Business gegründet – wir haben also beide eine Leidenschaft für Business, Entrepreneurship und Selbstständigkeit, ohne das würde es nicht funktionieren. Natürlich hab ich mein Leben auch so aufgebaut, dass es funktioniert: Wohnort, Büro und Kita sind in zehn Minuten zu Fuß erreichbar, so spare ich mir viel Zeit und Energie und kann meinen Alltag effizient organisieren. Und natürlich habe ich ein tolles Team, welches meine Arbeit unterstützt. Ohne mein Team wäre vieles nicht möglich. Aber man muss auch realistisch sein: meine Art zu leben, braucht auch viel Energie und Organisation. Das muss man wollen und das ist oft auch herausfordernd und schwer.
Mit New Order Design unterstützt ihr Unternehmen in deren Arbeitsweisen, damit sie innovativ arbeiten können. Wie läuft diese Implementation in deinen eigenen Businesses? Ist es für dich manchmal schwierig, dich an deine eigenen Ratschläge und/oder Empfehlungen zu halten?
Haha erwischt. Ja, es ist schwer manchmal seine eigenen Ratschläge in sein eigenes Business einzubauen, und das aus zwei Gründen: Zum einen ist man halt viel zu sehr selbst „drin“ und es fehlt einem die neutrale oder objektivere Perspektive von Außen und zum anderen nimmt man sich oft für das eigene Business gar nicht so viel Zeit, wie für ein bezahltes Kundenprojekt. Vieles ist aber bei uns auch ganz einfach umzusetzen. So sind die Arbeitstage und Arbeitszeiten recht flexibel, es kann von zu Hause, im Büro oder auch im Innenhof bei gutem Wetter gearbeitet werden. Wir kochen auch gemeinsam. Ich denke, dass mein Team selbstverantwortlich arbeitet und agiert.

Wie funktioniert das für euch und speziell für dich als Vorgesetzte mit so viel Freiheit und gleichzeitig Disziplin, Resultate zu erzielen?
Vertrauen – ich hab großes Vertrauen in mein Team, in jeden einzelnen. Ich bin mir sicher, dass er/sie weiß, was er/sie tut und ein gutes Resultat erzielen wird und ich spüre jeden Tag die Motivation. Um uns zu organisieren, nutzen wir digitale Tools, um Aufgaben, Kommunikation und Terminplanung im Griff zu haben. Ich versuche hauptsächlich Ziele und Prioritäten vorzugeben, aber das Team erarbeitet dann die Umsetzung selbstorganisiert.
Erzähle uns bitte mehr über das Konzept von Solostücke.
Solostücke ist mal als Upcycling-Kindermode Label als Teil meines Kommunikationsdesign Diploms entstanden. Ich wollte ein Business aufbauen, welches mit Reststoffen Mode produziert, im Sinne der Nachhaltigkeit. Nach dem Diplom musste ich zunächst so viel Arbeiten, um mir Geld zu verdienen, welches ich in Solostücke investieren konnte, dass es nicht so schnell mit Solostücke voranging. Dann bin ich nach Berlin und London gezogen und konnte nicht alles Material und alle Kisten mitnehmen. Nachdem es einige Jahre geruht hatte, entschied ich mich 2016 entweder das Konzept jetzt richtig um zu setzen oder alle Kisten wegzugeben. Und ich entschied mich für einen Neuanfang, habe das Corporate Design, das Konzept etc. überarbeitet und mich nur auf ein Produkt meiner früheren „Linie“ konzentriert; den Kapuzenpullover. Der ist bei den Kunden immer am besten angekommen, da er ein Unisex Kleidungsstück ist, das jeder im Kleiderschrank hat. Ich habe mir lokal eine Produktion gesucht und erste Prototypen entwickelt, den Schnitt optimiert und mich um die Materialzulieferung gekümmert. Es stellte sich heraus, dass mit einer Produktion in Deutschland meine Preiskalkulation schlecht im Kindersegment funktionierte und die Nachfrage hauptsächlich von Erwachsenen und vorwiegend Männern kam, also haben wir uns seit Ende 2018 auf Erwachsene konzentriert und zudem die Idee von „Corporate Wear“ entwickelt. Wir bieten unsere Solostücke B2B als moderne und nachhaltige Arbeitskleidung/Unternehmenskleidung an, welche wir farblich auf das Corporate Design des Unternehmens abstimmen können und ein Logo einsticken. Hierzu bieten wir nun auch einen Repair- und Rücknahmeservice an, um am Ende des Lebens des Produktes dieses wieder hochwertig in Stoff recyclen können, den wir wieder in unserer Produktion verwenden können. Und um dies tun zu können, benötigt es wirklich viel Produktentwicklung und an einigen Themen sind wir immer noch dran. Zudem nutzen wir nicht mehr nur noch post-consumer Material, sondern auch Reststücke, post-production Material, anderer nachhaltiger Labels für unsere Produktion.
Ihr unterstützt mit Solostücke auch Fairness und Nachhaltigkeit. Inwieweit wirkt sich das auf euer Team und euren Produktionsstandort aus?
Ja, ich hab mir dickköpfigerweise vorgenommen in Deutschland zu produzieren, um wirklich nachhaltig zu sein und die Produktion auch wirklich selbst überblicken zu können. Also zahlen wir hier natürlich ganz normale Stundenlöhne, was sich natürlich auf unsere Marge bzw. den Endverbraucherpreis auswirkt. Zurzeit produzieren wir zudem super lokal in Wiesbaden bei einem syrischen Schneider und unterstützen damit auch noch ein anderes kleines Familienunternehmen und die Integration hier in Deutschland. Diese Punkte sind extrem wichtig für mein Team und Teil ihrer Motivation für Solostücke oder New Order zu arbeiten.

Du hast in einem Interview mal gesagt, dass du die Selbstständigkeit für Frauen erleichtern würdest. Wo siehst du hier große Herausforderungen und wo hast du sie bei deiner eigenen Gründung gespürt?
Oh ja, hier gibt es noch viel zu tun. Zunächst einmal müsste Deutschland sich dazu entscheiden, das Unternehmertum und die Selbstständigkeit grundsätzlich zu unterstützen. Zurzeit ist man in den meisten Punkten gegenüber normalen Arbeitnehmern massiv benachteiligt, man hat also den Eindruck, dass dies nicht gefördert werden soll. Wenn es um die Selbstständigkeit von Frauen bzw. von Familien geht, dann ist natürlich das Thema Schwangerschaft und Kinderbetreuung ein großes Thema, auch hier sehe ich noch viel Bedarf. Eine Unternehmerin, die schwanger wird, setzt sich extrem hohem Risiko aus: Sie kümmert sich um Einkommen, Kunden, muss für ihr Team und Büro zahlen und eventuell eigene Mitarbeiter in der Schwangerschaft unterstützen, erhält aber selbst keine Unterstützung oder Absicherung. Gleiches gilt für das Elterngeld, welches ja wirklich ein Papierkrieg ist. Auch hier ist es für Selbstständige noch undurchsichtiger und risikoreicher. Das Unternehmen wird nicht von der Privatperson unterschieden, was Einkommen während des Elterngeldes betrifft. Und zuletzt ist einem kein Kindergartenplatz garantiert bzw. kann man nicht mit einem bestimmten Datum oder Alter des Kindes rechnen, was das Planen im Business unmöglich macht. Schwangerschaft und Elternzeit sind natürlich auch Themen die z. B. in einem GbR-Vertrag von Anfang an geregelt sein müssen, selbst wenn man dann noch nicht an Kinder denkt. Ob es schwerer ist als Frau Kredite oder Investoren zu finden, werde ich dann demnächst einmal herausfinden.
Wo soll es mit deinem entrepreneurial Spirit hingehen? Wo würdest du gerne noch mehr ausbauen bzw. bewirken?
Ich wünsche mir für 2020, dass Solostücke abhebt und wir ein festes Team dahinter aufbauen können – wir suchen noch Teammitglieder, Beirat und Investoren. Spannend fände ich es, wenn ich hier hauptsächlich Mütter beschäftigen könnte, die in Teilzeit arbeiten, und ich ihnen damit helfen könnte, Familie und Karriere unter einen Hut zu bekommen und ihre Fähigkeiten einbringen und weiterentwickeln zu können. Ich wünsche mir Kollaborationen mit großen Modelabels, die bei uns circular economy erleben können und Entrepreneurship und wir von Infrastruktur und Expertenwissen, Netzwerk und Produktion profitieren können.
http://www.solostuecke.de (Kinder)
www.solostuecke.com (Erwachsene)